Entstehung und statistische Einordnung der Sturmflut vom 2. Januar 2019

Christian Kaehler, Sebastian Fürst

Am Mittwoch, dem 2. Januar kam es zur ersten schweren Sturmflut 2019 an der deutschen Ostseeküste. Je nach Lage wurden 1,22 m (Kappeln) bis 1,91 m (Wismar) über Normal-Mittelwasserstand (NMW) an den Küstenpegeln gemessen. Die höchsten Wasserstände an der Außenküste der Ostsee wurden, neben Wismar, in Timmendorf auf Poel (1,78 m) und in Neustadt (1,75 m) erreicht. In Warnemünde lag der Scheitelwert bei 1,67 m über NMW [1]. Der Verlauf des Wasserstands ist in Abbildung 2 dargestellt. Ursache für die Sturmflut war das Orkantief „Zeetje“, welches aus Nordskandinavien Richtung Estland zog. „Zeetje“ traf auf das über Westeuropa liegende Hochdruck­gebiet „Ignatius“. Der Austausch der Luftmassen sorgte zunächst für starke Winde aus nord­östlicher Richtung. Am 31. Dezember drehte der Wind aus südöstlicher Richtung mit zunehmender Stärke auf Nordwest und erreichte dabei eine Geschwindigkeit von 23 m/s (in Böen 30 m/s). Mit Abnahme der Windgeschwindigkeit drehte der Wind wieder auf nördliche Richtung.

Abbildung 1: Entstehungsursachen von Sturmfluten in der Ostsee ([2])

Sturmfluten entstehen als Konsequenz der Inter­aktion verschiedener meteorologischer und hydrologischer Vorgänge (Abbildung 1). Für die südwestliche Ostsee sind der Füllungsgrad, der Schwingungsstau, der Windstau und -je nach Lage- der Buchtenstau die wesentlichen Ursachen für Sturmfluten.

Der südöstliche Wind bei der Januar-Sturmflut drückte zunächst mit steigenden Wind­geschwindigkeiten die Wassermassen aus der Kieler und der Mecklenburgischen Bucht in Richtung mittlere Ostsee. Das Resultat waren niedrige Wasserstände entlang der deutschen Ostseeküste. Besonders betroffen war die westliche Ostsee. In Flensburg lag der Wasser­spiegel 1,10 m unter NMW. Der Effekt schwächte sich entlang der mecklenburgischen Ostseeküste etwas ab. In Timmendorf (Poel) lag der Pegel 0,68 m unter NMW, in Koserow auf der Insel Usedom nur noch unter 0,55 m unter NMW [1]. Erhöhte Wasserstände durch eine Auffüllung der südwestlichen Ostsee können durch die niedrigen Wasserstände am 1. Januar 2019 ausgeschlossen werden.

Ein Schwingungstau entsteht infolge starker Winde aus südwestlichen bis westlichen Richtungen. Die Wassermassen werden durch die Kraft des Windes in die nordöstliche Ostsee gedrückt. Durch eine Veränderung der Windrichtung oder nachlassende Geschwindigkeiten reicht die Kraft für den Transport der Wassermassen nicht mehr aus. Es kommt zu einer Rückschwingung der Wassermassen in die südwestliche Ostsee. In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar drehte der Wind aus Südwest nach Nord, während die Windgeschwindigkeit abnahm. Ohne die treibende Kraft des Windes bewegten sich die Wassermassen zurück in die südwestliche Ostsee. Es kam zu einem Schwingungsstau.

In der Regel hat der Windstau den größten Anteil an Sturmfluten. Während starke südliche und süd­westliche Winde das Wasser von der Küste wegdrängen, kommt es bei anhaltenden Winden aus nörd­lichen und nordöstlichen Richtungen zum Windstau. Neben der Rückschwingung des Wassers aus nordöstlichen Richtungen wurden am 2. Januar erhebliche Wassermengen durch die Reibungskraft des Wassers auf die Meeresoberfläche an die deutsche Ostseeküste gedrückt. Die entscheidenden Faktoren für den Windstau sind anhaltende starke Winde sowie die sogenannte Windstreichlänge (Fetch-Länge). Je größer die Windstreichlänge, desto mehr Energie überträgt der Wind auf die Wasser­oberfläche.
Die möglichen Längen variieren je nach Standort und Windrichtung. Bei nordöstlichen Winden beträgt die Windstreichlänge für die Insel Usedom bis nach Estland in etwa 750 km. Bei ausdauernden Winden mit hohen Geschwindigkeiten kann der Windstau an der Ostseeküste Usedoms Wasserstände von 1,5 m bis 2 m verursachen. Nordwestliche bzw. nördliche Winde, wie sie am 2. Januar 2019 auftraten, haben je nach Ortslage vergleichsweise geringe Windstreichlängen. Rostock-Warnemünde hat beispielsweise eine nordwestliche Windstreichlänge von etwa 110 km (Insel Langeland) und 50 km (Gedser) für nördliche Windrichtungen.

Der Buchtenstau ist ein lokal beschränktes Phänomen und hängt stark von der Topographie des Standortes ab. Durch meist abnehmende Wassertiefen und eine zunehmende Enge landeinwärts übt das eindringende Wasser einen zusätzlichen Staueffekt aus. Dieser Effekt führt bei Sturmfluten häufig zu überdurchschnittlich hohen Wasserständen in den Buchten von Wismar, Greifswald und Travemünde.

Abbildung 2: Hydrodynamische Parameter der Sturmflut am Pegel Rostock-Warnemünde ([3])

Die Überlagerung der Effekte Schwingungsstau, Windstau und zum Teil Buchtenstau führten Anfang des Jahres 2019 zur höchsten Sturmflut in der südwestlichen Ostsee seit 1954 (gültig für Pegel Warnemünde). Zum Vergleich sind in Tabelle 2 die sechs höchsten Sturmfluten der vergangenen 65 Jahre aufgelistet. Die entscheidenden Größen Windgeschwindigkeit, Windrichtung und der daraus resultierende Wasser­stand sind in Abbildung 2 grafisch für den Pegel Rostock-Warnemünde dargestellt. Es ist ersichtlich, dass die hohen Wasserstände verzögert zu den hohen Windgeschwindigkeiten auftreten. Ursache dafür ist -neben der Trägheit der Wassermassen- die Änderung der Windrichtung auf nördliche Richtungen. Der Wind wurde mit der Änderung der Richtung zunehmend schwächer. Bei gleichbleibenden Wind­geschwindigkeiten aus nördlichen oder nordöstlichen Richtungen wären die Scheitelwerte an den Pegeln der deutschen Ostseeküste vermutlich deutlich höher ausgefallen.

Tabelle 1: Jährlichkeiten der sechs höchsten Scheitelwerte am Pegel Warnemünde ([3])

Sturmfluten und die damit verbundenen Wasserstände lassen sich durch mathematisch-statistische Modelle klassifizieren und bewerten. Diese Modelle basieren auf jahrzehntelangen regelmäßigen Auf­zeichnungen der Wasserstände an verschiedenen Pegelstandorten und sind unter anderem Grundlage für die Dimensionierung und Bemessung von Küstenschutzanlagen. Häufig werden Sturmfluten in der Fachwelt oder in den Medien durch eine so genannte „Jährlichkeit“ klassifiziert. Dabei sind Begrifflichkeiten wie zum Beispiel „200-jähriges Hochwasser“ üblich. Sturmfluten lassen sich also nicht nur durch ihre Scheitelwerte beschreiben, sondern auch durch die Häufigkeit ihres Auftretens (Jährlichkeit). Die Jährlichkeit kann als Wiederkehrwahrscheinlichkeit von Naturereignissen definiert werden. Der Scheitelwert eines zehnjährigen Hochwassers wird also im statistischen Mittel zehnmal in 100 Jahren erreicht oder überschritten. Das bedeutet nicht, dass die Zeitspanne zwischen den Ereignissen zehn Jahre betragen muss.

Diese Tatsache wird in Abbildung 3 und in Tabelle 1 deutlich. Die Sturmflut im Jahr 2017 mit einem Scheitelwert von 1,60 Meter über dem Normal-Mittelwasserstand kommt im statistischen Mittel alle 31 Jahre vor. Tatsächlich lag der Scheitelwert der Sturmflut 2019 bereits zwei Jahre später mehrere Zenti­meter über dem Niveau von 2017. Abbildung 3 zeigt, dass fünf der sechs höchsten Sturmfluten in einem Betrachtungszeitraum von 65 Jahren in den letzten 24 Jahren aufgetreten sind. Mathematische Modelle sind ein bewährtes Mittel, um Sturmfluten zu klassifizieren und entsprechende Dimensionierungen für den Küsten- und Hochwasserschutz abzuleiten. Die Natur folgt diesen mathematischen Modellen nur bedingt. Sturmfluten sind das Resultat zufälliger meteorologischer und hydrologischer Ereignisse und können bei den entsprechenden Voraussetzungen häufiger auftreten als es die Modelle mit Angabe der Jährlichkeit vorhersagen.

Abbildung 3: Jährliche Scheitelwerte seit 1994 am Pegel Rostock-Warnemünde ([4])

Neben der Klassifizierung der Sturmfluten durch Eintrittswahrscheinlichkeiten, werden Sturmfluten ebenso hinsichtlich der maximalen Scheitelwerte in so genannte Sturmflutstufen eingeteilt. Die Stufen für die Außenküste Mecklenburg-Vorpommern sind in Tabelle 2 aufgeführt. Je nach Behörde und Bundesland können sich die Bezeichnungen der Stufen leicht unterscheiden. Die Sturmflut Anfang Januar 2019 mit Pegelständen von über 1,5 m NMW in Mecklenburg-Vorpommern fällt in die Kategorie „Schwere Sturmflut.“ Die genannten Klassifizierungen von Sturmfluten beziehen sich nur auf die Scheitelwerte. Aussagen zum Seegang oder zur Sturmflutdauer bleiben jedoch unberücksichtigt.

An der Küste treten Sturmfluten meist zusammen mit winderzeugtem Seegang auf. Die Kombination aus hohen Wasser­ständen und hohen Wellen hat die größte Zerstörungskraft auf Strukturen an der Küste. Wind­erzeugter Seegang ist, ähnlich wie der Windstau, ein Resultat der Übertragung von Energie des Windes in das Wasser. Die wesentlichen Größen sind die Dauer und Intensität der Energieübertragung durch den Wind, die Streichlänge des Windes und schlussendlich die Wassertiefe. Laufen Wellen aus dem tiefen in das flache Wasser, so führen verschiedene Effekte dazu, dass die Wellen im Uferbereich brechen. Eine Welle wird instabil, wenn das Verhältnis von Wellenhöhe und Wassertiefe etwa eins entspricht. Wellen wandeln beim Brechen in der Brandungszone einen erheblichen Teil ihrer Energie um und können über die Dauer der Sturmflut durch periodische Belastungen Schäden an den betroffenen Bauwerken verursachen. Bei hohen Wasser­ständen transportieren nicht gebrochene Wellen also mehr Energie an die Küste. Ein aktuelles Beispiel für die dabei wirkenden Kräfte ist die Seebrücke im Küstenort Prerow. Durch den Wellenschlag wurden etliche Holzbohlen und ein Teil des Geländers der Seebrücke zerstört.

Abbildung 4: Auswirkungen der Sturmflut: An den Steilufern im Naturschutzgebiet Stoltera kam es zu Hangrutschungen (links). In Markgrafenheide wurde ein Teil der Düne vom Hochwasser erodiert. (rechts). Beide Aufnahmen: Christian Kaehler

Für die Wellenhöhen lassen sich mit mathematischen Methoden, wie für die Wasserstände auch, Eintritts­wahrscheinlichkeiten bzw. Jährlichkeiten berechnen. Durch eine vom Staatlichen Amt für Land­wirtschaft und Umwelt Mittleres Mecklenburg betriebene Messkette im Warnemünde wurde während der Sturmflut Anfang Januar eine signifikante Wellenhöhe von 2,58 m gemessen (Abbildung 2). Diese Wellenhöhe wird in Warnemünde im Mittel alle 24 Jahre erreicht. Die Wellenhöhe mit einer Jährlichkeit von 200 Jahren liegt im Bereich der Warenmünder Küste bei etwa 3,60 m.

Die stetig wirkenden Kräfte des Wassers verändern das Gesicht unserer Ostseeküste täglich. Große Veränderungen sind besonders nach schweren Sturmfluten an der Küste zu beobachten. So kam es zu Rutschungen an den Steilufern, zu Abbrüchen an den Landesküstenschutzdünen (Abbildung 4) und zu großen Sand­umlagerungen an den Stränden. Die Hangrutschungen an den Steilufern sind Teil der natürlichen Prozesse und liefern das Sediment für die Ausgleichsküsten. So wird z.B. das durch die Sturmflut gelöste Sediment der Steilküsten im Naturschutzgebiet Stoltera durch windinduzierten und seegangsbedingte Strömungen im Wasser entlang der Küste transportiert. Der Transport nach Osten wird durch das Molenbauwerk an der Mündung der Warnow unterbrochen. Die Folge ist die Akkumulation des Sediments der Brandungszone des Warnemünder Strand. Die Dünen an der Ostseeküste sind so dimensioniert, dass sie mehreren starken Sturmfluten stand­halten, ohne ihre Schutzwirkung zu verlieren. Erosion und Sandverluste an den Dünen sind also Teil des Schutzkonzeptes. Der sogenannte Verschleißteil wird von den zuständigen Behörden regelmäßig überprüft und erforderlichenfalls wiederhergestellt.

In Warnemünde wird im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Rostock ein Teilbereich des Strandes regelmäßig vermessen. Durch die Auswertung der Vermessungsdaten konnte nach­gewiesen werden, dass im untersuchten Bereich (Strandaufgang 23 bis 25) durchschnittlich 0,5 m³ pro Quadratmeter von den beiden Sturmfluten im Januar (Sturmtief „Zeetje“ und „Benjamin“) abgetragen wurden. Diese Menge lässt sich aufgrund der hohen Variabilität im Ufer- und Strandbereich nur sehr eingeschränkt auf andere Bereiche übertragen, erlaubt aber eine Abschätzung der Sandmenge, die durch die Seegangsenergie umgelagert wurde.

Verschiedene Untersuchungen machen eines deutlich: Der Klimawandel findet bereits weltweit sichtbar statt. Zum Beispiel verliert das Urlaubsparadies Kuba pro Jahr in etwa 1,5 bis 2,5 Meter Strand an das Meer [5]. Verantwortlich dafür ist unter anderem die verstärkte Sanderosion durch den Anstieg des Meeres­spiegels. Nicht immer sind die Konsequenzen so deutlich sichtbar wie auf Kuba. Viele Prozesse und Veränderungen finden schleichend statt. Auch die deutsche Ostseeküste wird vom Klimawandel nicht verschont bleiben. Der Wasserspiegel steigt schon jetzt im Schnitt um 1,4 Millimeter pro Jahr. Je nach Szenario kann sich dieser Wert in der Zukunft drastisch erhöhen. Es ist damit zu rechnen, dass im für Ende des Jahres 2019 zu erwartenden IPCC Bericht des Uno-Weltklimarats deutlich höhere Werte als derzeit geltend aufgeführt werden. Extreme Ereignisse, wie zum Beispiel Sturmfluten, werden die Ostseeküste häufiger treffen. Dadurch wird die negative Sedimentbilanz der Ostseeküste verstärkt. Es wird also noch mehr Sediment abgetragen als abgelagert. Küstenschutzmaßnahmen wie Sandaufspülungen werden in Zukunft häufiger stattfinden müssen.

Es ist die langfristige Aufgabe der Politik und der Forschung, die Folgen des Klimawandels nicht nur global, sondern auch lokal in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken und interdisziplinär zu verknüpfen. Die Anpassung an den Klimawandel in Mecklenburg-Vorpommern bedeutet mehr als nur der Schutz unserer Küste.

 

Schrifttum

[1] Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV), Datenportal Pegel Online, 2019, online unter www.pegelonline.wsv.de [Stand: 18.01.2019]

[2] Regelwerk Küstenschutz Mecklenburg-Vorpommern. Mecklenburg, 2012, Staatliches Amt für Landwirtschaft und Umwelt Mittleres Mecklenburg, Dezernatsgruppe Küste, Rostock.

[3] Die Abbildungen basieren auf Messdaten der folgenden Institutionen:

Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV), Datenportal Pegel Online, 2019, online unter www.pegelonline.wsv.de [Stand: 18.01.2019]

Deutscher Wetterdienst (DWD), Serverdienst Opendata, 2017, online unter opendata.dwd.de, [Stand 15.01.2019]

Internes Messnetz Küste Mecklenburg-Vorpommern, Staatliches Amt für Landwirtschaft und Umwelt Mittleres Mecklenburg, Dezernatsgruppe Küste, Rostock.

[4] Messwerte des ­­­­­­Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH)

[5] O.V., „Karibik: Strände auf Kuba von Erosion betroffen“, 2016, Agência latinapress News & Media vom 25.06.2016, online unter: https://latina-press.com/news/222292-karibik-straende-auf-kuba-von-erosion-betroffen/ [Stand: 21.01.2019]